Sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich?
Der Artikel 3 des Grundgesetzes der Bundesrepubik Deutschland behauptet jedenfalls:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich
(3) Niemand darf wegen (...) seiner Abstammung (...) benachteiligt oder bevorzugt werden.
Ausgehend von der Französischen Revolution ist der erbliche, an den Boden gebundene Feudalismus zumindest theoretisch überwunden worden. Politische Macht ist formal nicht mehr erblich. Die familiäre Herkunft soll laut Gesetz nicht mehr das Schicksal des einzelnen Menschen bestimmen. Dass dem aber noch lange nicht so ist wird kaum jemand bestreiten. Anstatt des Bodens als Machtquelle hat sich für den Finanzadel das gesellschaftlich geschützte Eigentum, also das Kapital, als die Machtbasis für den modernen Feudalismus etabliert. Was früher Lehensverhältnisse waren, sind heute Darlehen, Pacht und Mietverhältnisse, und an der Vererbbarkeit dieser Macht hat sich nichts geändert.
Schaut man die Bereiche an auf denen wir in den letzten Jahrhunderten an der Umsetzung der Idee von der grundsätzlichen Gleichwertigkeit der Menschen gearbeitet haben, dann findet man, dass die Felder unterschiedlich gut bestellt sind: Im Bereich des Rechts scheint die Umsetzung der Chancengleicheit am meisten gelungen. Leibeigenschaft und Sklaverei sind über die Jahrhunderte abgebaut worden, Freiheit der Berufswahl, Reisefreiheit usw. sind weitgehend erreicht. Ein Wahlrecht wurde eingerichtet, erst beschränkt, dann ein Klassenwahlrecht mit verschiedener Wertigkeit der Stimmen, dann eine Stimme für alle Männer und anfangs des letzten Jahrhunderts auch für alle Frauen. Allerdings sind die letzten Gleichstellungsgesetze für die Geschlechter noch nicht alt. Inzwischen ist jedoch das öffentliche Bewußtsein für die Gleichheit vor dem Recht so geschärft, dass auch hohe Politiker unter die Räder der Justiz kommen, wenn sie Geschenke annehmen, was noch vor 50 Jahren allenfalls zur Heiterkeit der Beschuldigten geführt hätte.
Im Bereich der Bildung, also des freien Zugangs zu den geistigen und kulturellen Schätzen die wir den einzelnen Mitgliedern der nachfolgenden Generation zu bieten haben, kämpfen wir noch erheblich an der Chancengleichheit. Der geburtsbedingte und ökonomische Hintergrund der Schüler wirkt sich immer noch deutlich auf das messbare Bildungsergebnis aus. Dieses Problem ist aber im politischen Fokus mehr oder weniger aller Parteien. Immer wenn von mehr Chancengleichheit die Rede ist, ist nahezu ausschließlich die Chancengleichheit im Bildungswesen gemeint.
Nicht zu verstehen aus unserem Blickwinkel ist, dass wir in dem Bereich der Materie, also der Ausstattung mit realem Gut geradezu nichts für die Entwicklung zur Chancengleichheit tun. Das Eingemachte der Clans, mit dessen Weitergabe sie in der nachfolgenden Generation die einen zu Herren und die anderen zu Dienern bestimmen, wird in allen politischen Statements zur Chancengleichheit übersehen. Unser aktuelles Erbrecht macht es möglich, dass ein hier Geborener per Geburt dazu verpflichtet ist, für den Platz auf dem er lebt, leben muss, zahlen zu müssen; zahlen an einen Anderen, möglicherweise Gleichaltrigen, der dafür keinerlei Leistung erbracht hat. Hier besteht der größte Nachholbedarf in Sachen Chancengleichheit.
Geht man davon aus, dass die Chancengleichheit in allen diesen drei Aspekten, dem Recht, der Bildung und dem Materiellen, die Voraussetzung einer erfolgreichen Gesellschaft von glücklichen Menschen ist, dann drängt sich auf, dass hier genau wie in der Düngerlehre des Justus von Liebig, das "Gesetz des Minimums" wirksam sein könnte: